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Politische Theorie in der Krise

In Mittelweg 36 25.2 (2016).

Zusammenfassung

Ist die irritierende Sprachlosigkeit der Politischen Theorie angesichts der heutigen Krisen der Welt der Effekt eines politischen Liberalismus, der Politische Theorie primär als Moralphilosophie oder Gerechtigkeitstheorie betreibt und so den Eigensinn von Politik nicht mehr in den Blick bekommt?

Von immer neuen Krisen zu sprechen, gehört im Journalismus zum Tagesgeschäft. Doch auch ohne den professionellen Druck zur Zuspitzung fällt es schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass wir in politisch aufregenden, beunruhigenden und vielleicht sogar besorgniserregenden Zeiten leben. Erkennbar sind die Anlässe zunächst in unserem unmittelbaren Umfeld, der Europäischen Union: In einigen Mitgliedsstaaten wie in Ungarn mehren sich die Anzeichen autoritären Regierens. Griechenland wurde und wird vor allem durch Deutschland einem antidemokratischen Fiskalregime unterworfen und soll nun nach dem Willen einiger Unionsstaaten sogar den Schengenraum verlassen. Großbritannien setzt seine Interessen mit Mitteln durch, die erpresserisch zu nennen jedenfalls nicht weit hergeholt wäre. Und die gesamte Union wird von all den – teils lange und gerade auch in Deutschland verdrängten – Fragen, wie sie mit den bei ihr ankommenden Flüchtlingen umgehen will, nicht nur eingeholt, sondern buchstäblich entzweit. Doch wirkt die gravierende Erschütterung der Europäischen Union im Vergleich mit weiteren internationalen Krisen geradezu harmlos: Das Schlachtfeld Syrien liefert den Akteuren hinter den Stellvertreterkriegen im Nahen Osten alle erdenklichen Rechtfertigungen dafür, ihre Eskalation »im Kampf gegen den IS« weiterzutreiben. Der Krieg in der Ukraine ist keineswegs beendet, brodelt vielmehr auf einstweilen niedrigerem Niveau weiter. Und sobald wir den Blick über Europa und seine unmittelbaren Nachbarn hinausrichten, werden zahlreiche Konflikte unterschiedlicher Intensität sichtbar. Wer nach dem Ende des Kalten Kriegs und dem Untergang der bipolaren Weltordnung gehofft haben sollte, friedlicheren Zeiten entgegensehen zu können, findet sich schon nach der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts bitter enttäuscht. Nun stehen die Sozialwissenschaften, anders als der Journalismus, nicht unter der Erwartung, jede Wendung aktueller Ereignisse rasch kommentieren zu müssen, zumal dann nicht, wenn sie als theoretisch reflektierende Sozialwissenschaften betrieben werden. Aber selbst der berechtigte Verweis auf die Eigenzeit der Wissenschaft kann eine Disziplin mit dem Namen »Politische Theorie« nicht davon entheben, diese Krisen und Konflikte mit ihren eigenen Mitteln zu bearbeiten. Allein, wir vernehmen: nichts. Kaum ein Beitrag in einer der wissenschaftlichen Fachzeitschriften für Politische Theorie fragt danach, wie die besagten Konflikte aus Sicht der Politischen Theorie zu interpretieren wären. Kein Artikel stellt sich die Frage, ob die Häufung und der Verlauf von Krisen die Theorie nicht vor die Aufgabe stellt, neue Begriffe zu finden, liebgewonnene Überzeugungen zu prüfen und gegebenenfalls zu revidieren. Vielmehr herrscht weitgehende Sprachlosigkeit. Die in diesem Themenheft versammelten Beiträge untersuchen die Gründe für diese Sprachlosigkeit der Politischen Theorie. Sie schlagen dabei einen spezifischen Pfad ein. Denn gefragt wird vor allem, ob die gegenwärtige Dominanz des politischen Liberalismus im Diskurs der Politischen Theorie ein Grund für die Schwierigkeiten der Disziplin sein könnte, angemessene Diagnosen zu liefern und mit zeitdiagnostisch aufschlussreichen Analysen aufzuwarten. Ist die irritierende Sprachlosigkeit der Politischen Theorie angesichts der heutigen Krisen der Welt der Effekt eines politischen Liberalismus, der Politische Theorie primär als Moralphilosophie oder Gerechtigkeitstheorie betreibt und so den Eigensinn von Politik nicht mehr in den Blick bekommt?

Besprechungen

Julian Culp: “Wer Ohren hat, der höre! Zur vermeintlichen Sprachlosigkeit Politischer Theorie”, theorieblog, 10. Mai 2016.

Dazu gibt es eine Replik von Martin Nonhoff und mir: “Was wir hören”, theorieblog, 23. Mai 2016.

Isabelle-Christine Panreck: “»Ich weiß nur, dass ich nichts weiß«. Die Abwesenheit letzter Gründe in der Theorie”, Soziologische Revue 40.3 (2017), 385–396.

Friedemann Bieber: “Das Ende der Geschichte, vertagt”, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Mai 2017.

Julian Culp: “Vom Nutzen der Idee vollkommener Gerechtigkeit”, in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. November 2017.

Wir haben inzwischen auf die Besprechungen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von Friedemann Bieber und Julian Culp reagiert; die Replik wurde unter dem Titel “Politik ist leider manchmal ein schmutziges Geschäft” in der FAZ vom 27. Dezember 2017 veröffentlicht.