Von Claus Ableiter, CC BY-SA 3.0

Die Wurzeln politischer Epistemologie

Dieses in Entstehung begriffene Forschungsprojekt widmet sich der Entwicklung politischer Epistemologie als eines Feldes, auf dem sich Philosophie, Sozial- und Kulturwissenschaften dank gemeinsamer Fragen zum Zusammenhang von Wahrheit und Politik treffen. Bislang erfolgen die Vorstöße aus ganz unterschiedlichen Bereichen der Philosophie bzw. Sozial- und Kulturwissenschaften jedoch weitgehend ohne Dialog untereinander und verschenken damit wertvolle Einsichten. Meine These ist, dass sich die grundsätzliche Überlegung, dass Wahrheit und Politik oder Erkenntnistheorie und politische Philosophie verschränkt gedacht werden müssen, in mindestens sechs verschiedenen philosophischen Feldern finden lässt. Jeweils weisen die darin geführten Diskussionen eine Entwicklungstendenz in Richtung einer allgemeinen politischer Epistemologie, doch jeweils ist diese Entwicklung – aus unterschiedlichen Gründen – (noch) nicht ganz vollendet.

Die erste dieser »Wurzeln« politischer Epistemologie lässt sich im Feld postpositivistischer Wissenschaftsphilosophie verorten. Nach Thomas Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962) hat sich ein Strang wissenschaftsphilosophischer Arbeiten herausgebildet, der Wissenschaft primär von ihrer Tätigkeit und nicht von ihrem Wissen her analysiert, ob nun in der Betonung von Experimenten (Ian Hacking, Hans-Jörg Rheinberger), Modellen (Nancy Cartwright) oder wissenschaftlichen Praktiken (Bruno Latour, Josef Rouse). Dabei wird die Rolle von Politik bzw. von Macht im Allgemeinen in der Produktion wissenschaftlichen Wissens betont, ohne Wissen auf Macht zu reduzieren, und damit der argumentative Grundzug politischer Epistemologie vollzogen, freilich häufig ohne die Konsequenzen für Begriffe wie Wissen und Wahrheit auf der einen und Politik oder Gesellschaft auf der anderen Seite explizit zu auszuarbeiten. Insofern bleibt der Übergang zu einer politischen Epistemologie oft auf halbem Wege stecken.

Eine zweite Wurzel ist die Kritische Theorie mit ihrem Postulat, dass Erkenntnis- ohne Gesellschaftstheorie idealistisch und Gesellschafts- ohne Erkenntnistheorie dogmatisch sei. Doch weder Max Horkheimer noch Theodor W. Adorno haben ihre Einsicht in die Notwendigkeit einer wechselseitigen Transformation von Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie je ausbuchstabiert, und nach dem letzten Vorstoß von Jürgen Habermas in Erkenntnis und Interesse (1968) hat sich die Kritische Theorie der Frankfurt Schule kaum mehr mit ihren erkenntnistheoretischen Voraussetzungen beschäftigt – ein bemerkenswerter Umstand, wenn man bedenkt, dass sie im Kern eine alternative Wissensproduktion als emanzipatorisches Projekt propagiert.

Die dritte Wurzel ist die feministische Epistemologie. Entstanden als Kritik androzentrischer Wissenschaftspraktiken und konfrontiert mit der Aufgabe, eine Erklärung für die epistemischen Erfolge feministischer Wissenschaft zu finden, arbeitete sie theoretische Begriffe und Positionen aus, um die politische und epistemische Dimension von wissenschaftlichen Praktiken zu reflektieren, ohne die eine auf die andere zu reduzieren. Feministische Standpunkttheorie oder Donna Haraways Begriff situierten Wissens sind nur zwei der prominentesten Vorschläge. Für mein Projekt ist besonders interessant, dass sich die feministische Epistemologie in jüngster Zeit zunehmend als intersektionales Forschungsprogramm versteht, d.h. etwa auch den Einfluss von race und class auf die Erkenntnisproduktion untersucht – eine Verallgemeinerungsbewegung hin zu einer generellen politischen Epistemologie.

Eine vierte Wurzel ist der französische Poststrukturalismus, der die französische Tradition einer historischen Epistemologie von Gaston Bachelard und Georges Canguilhem teilweise beerbt. Louis Althusser und Michel Foucault greifen diese Überlegungen auf, stellen aber die politischen Kämpfe im und ums Wissen ins Zentrum. Während Althusser noch glaubt, eine definitive Grenze zwischen Ideologie und »reiner Wissenschaft« ziehen zu können, analysiert Foucault die politisch erkämpften Existenzbedingungen von Wissenspraktiken überhaupt. Allerdings wurden die epistemologischen Fragen im französischen Poststrukturalismus schnell den politischen untergeordnet und daher die Konsequenzen aus den eigenen Reflexionen in Richtung auf eine politische Epistemologie kaum ausgearbeitet.

Fünftens gehen von der analytischen Erkenntnistheorie zaghafte Bewegungen in Richtung politischer Epistemologie aus. So versuchen einige seit den 1980er Jahren, den Individualismus und Hyperrationalismus der herkömmlichen Epistemologie zu überwinden, oft durch den Übergang zur sozialen Epistemologie. Außerdem gibt es zunehmend Interesse an moralischen und politischen Fragen in der analytischen Erkenntnistheorie, etwa zur epistemischen Gerechtigkeit (Miranda Fricker) oder zu ideologisch verzerrter Erkenntnis (Sally haslanger). Diese Entwicklungen bewegen die klassische Erkenntnistheorie von innen heraus auf eine politische Epistemologie zu.

Sechstens schließlich hat die postkoloniale Theorie die Einsicht in den Zusammenhang von Wissensproduktion und politischer Herrschaft insofern in Richtung einer politischen Epistemologie vorangerieben, als sie die Notwendigkeit von Widerstand gegen koloniale Wissenschaftspraktiken und die Ausbildung alternativer Wissensformen postuliert (Boaventura de Sousa Santos, Walter D. Mignolo). Wie im französischen Poststrukturalismus, von dem diese Arbeiten teilweise inspiriert sind, werden die epistemologischen Fragen jedoch oft den politischen untergeordnet, anstatt sie gleichberechtigt zu behandeln.

Politische Epistemologie als Treffpunkt dieser fünf Entwicklungen zu verstehen, soll in dem Projekt jedoch über eine reine Theoriegeschichte hinaus die Identifikation gemeinsamer Probleme ermöglichen. Im Vorgriff auf die Ergebnisse lassen sich bereits jetzt drei ungelöste Aufgabe bestimmen: Erstens bleibt die intendierte wechselseitige Transformation von Erkenntnistheorie und politischer Philosophie noch zu leisten. Einerseits müssen die politischen Voraussetzungen epistemischer Begriffe sichtbar gemacht und teilweise revidiert werden, insbesondere von Grundbegriffe wie »Wissen« und »Wahrheit«. Andererseits müssen die Konzepte der politischen Philosophie auf ihre epistemischen Voraussetzungen befragt werden, die von Begriffen wie »Gesellschaft« oder »sozialen Praktiken« in Anspruch genommen werden. Zweitens muss die politische Epistemologie mit der Spannung zwischen Objektivität und Perspektivität umgehen. Was bedeutet Objektivität, wenn Epistemologie politisch ist? Wie denken wir Perspektivität, ohne in einen Relativismus zu verfallen, der epistemologische Fragen direkt entwerten würde? Drittens muss die politische Epistemologie ihre Selbstreflexivität thematisieren: Wie versteht sie ihre eigenen wissenschaftlichen Praktiken, also die Produktion von Wissen in der politischen Epistemologie? Diese drei Aufgaben werden sehr verschieden bearbeitet, doch spielen sie in allen sechs Forschungsrichtungen, die sich in der politischen Epistemologie treffen, eine entscheidende Rolle.

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