Frieder Vogelmann

Vom Regen in die Traufe:
Rechts- ohne Verantwortungskritik




Kritische Theorie des Rechts


Düsseldorf
17./18. Januar 2020





»[…] Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch! - Und darum wisse: Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!«

Georg fühlte sich aus dem Zimmer gejagt […]. […] Aus dem Tor sprang er, über die Fahrbahn zum Wasser trieb es ihn. Schon hielt er das Geländer fest, wie ein Hungriger die Nahrung. Er schwang sich über, als der ausgezeichnete Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern gewesen war. Noch hielt er sich mit schwächer werdenden Händen fest, erspähte zwischen den Geländerstangen einen Autoomnibus, der mit Leichtigkeit seinen Fall übertönen würde, rief leise: »Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt«, und ließ sich hinabfallen.

Franz Kafka, Das Urteil (1912)

I. Verantwortungszuschreibungen im Recht

[…] daß es einen nicht nur zufälligen Zusammenhang zwischen der individualisierenden Zurechnung eines strafbaren Unrechts zur Schuld einer Person und der Art und Weise der Legitimation derjenigen Rechtsnormen gibt, deren Verletzung zugerechnet wird.

Klaus Günther, Schuld und kommunikative Freiheit (2005), 1

Alle symbolischen Funktionen, die der Strafe zugeschrieben werden, lassen sich bereits durch die […] kommunikative Bedeutung des Schuldspruchs für den Täter selbst, das Opfer und die Gesellschaft erfüllen.

Klaus Günther, Strafrechtliche Verantwortlichkeit
in der Zivilgesellschaft
(2000), 40f.

I. Verantwortungszuschreibungen im Recht

Die Beteiligten an einer Kontroverse über die Zuschreibung individueller Verantwortung […] müßten sich selbst und einander wechselseitig als Personen anerkennen, die über eine jeweils andere ethische Identität in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft oder Lebensform verfügen, zugleich aber auch trotz ihrer verschiedenen Identität als Personen Gleiche sind.

Klaus Günther, Schuld und kommunikative Freiheit (2005), 236

I. Verantwortungszuschreibungen im Recht

Das Strafurteil des erkennenden Gerichts ist ein Statusurteil, mit dem einer Person öffentlich die Schuld an einem Unrecht zugeschrieben wird. Schon dieser Eingriff ist rechtfertigungsbedürftig und nicht erst die Strafe.

Klaus Günther, Strafrechtliche Verantwortlichkeit
in der Zivilgesellschaft
(2000), 41.





Wozu verlangen wir Verantwortlichkeit, wenn nicht, um zu strafen?

II. Zur Genealogie von »Verantwortung«

Verantworten, heißt sich gegen die wider einen angebrachten Beschuldigungen vertheidigen, oder sich auf die von einem anderen erhobene Klage einlassen und antworten, sonst auch den Krig Rechtens befestigen, Lat. se defendere, oder adacctionem intentatem respondere. Daher kommt die Verantwortung, oder die Vertheidigung, die Einlassung und Antwort, oder die Befestigung des Kriegs-Rechts, Lat. Defensio, oder Responsio ad actionem intentatam, und Litis contestatio.

Johann Heinrich Zedler (Hg.), Grosses vollständiges Universallexikon
aller Wissenschaften und Künste
, Band 47 (1746), 96

II. Zur Genealogie von »Verantwortung«

Responsibility means punishment.

John Stuart Mill, An Examination of
Sir William Hamilton’s Philosophy
(1865), 454

II. Zur Genealogie von »Verantwortung«

Wenn ich Jemandem die Verwaltung meines Vermögens anvertraue, und er mein Vertrauen mißbraucht, um Operationen zu machen, die offenbar wider meinen Willen und meinen Vortheil sind, so ist er verantwortlich; aber wenn derselbe Mensch meine Geldkiste aufbräche, um mir eine Summe, die ich ihm nicht anvertraut habe, wegzunehmen, so wird man nicht sagen, daß er als mein Geschäftsträger verantwortlich ist, sondern er ist strafbar wegen eines gewaltsamen Eingriffs in mein Eigenthum.

Benjamin Constant, Über die Verantwortlichkeit der Minister (1815), 4

II. Zur Genealogie von »Verantwortung«

Man kann sagen, daß drei Qualitäten vornehmlich entscheidend sind für den Politiker: Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß.

[…] daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.

Max Weber, Politik als Beruf (1919), 545 und 552

II. Zur Genealogie von »Verantwortung«

Das Heischen der Sache einerseits, in der Unverbürgtheit ihrer Existenz, und das Gewissen der Macht andererseits, in der Schuldigkeit ihrer Kausalität, vereinigt sich im bejahenden Verantwortungsgefühl des aktiven, immer schon in das Sein der Dinge übergreifenden Selbst.

Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung (1979), 175

II. Zur Genealogie von »Verantwortung«

Eben das ist die lange Geschichte von der Herkunft der Verantwortlichkeit. Jene Aufgabe, ein Thier heranzuzüchten, das versprechen darf, schliesst […] als Bedingung und Vorbereitung die nähere Aufgabe in sich, den Menschen zuerst bis zu einem gewissen Grade nothwendig, einförmig, gleich unter Gleichen, regelmässig und folglich berechenbar zu machen. […] der Mensch wurde mit Hülfe der Sittlichkeit der Sitte und der socialen Zwangsjacke wirklich berechenbar gemacht. Stellen wir uns dagegen an’s Ende des ungeheuren Prozesses, dorthin, wo der Baum endlich seine Früchte zeitigt, wo die Societät und ihre Sittlichkeit der Sitte endlich zu Tage bringt, wozu sie nur das Mittel war: so finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das souveraine Individuum, […] kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen Willens, der versprechen darf - und in ihm ein stolzes, in allen Muskeln zuckendes Bewusstsein davon, was da endlich errungen und in ihm leibhaft geworden ist, ein eigentliches Macht- und Freiheits-Bewusstsein, ein Vollendungs-Gefühl des Menschen überhaupt.

Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887), II/§1, 293

III. Rechts- ohne Verantwortungskritik

Durch die Eliminierung des Rechtszwangs wird zudem die rationale Einsehbarkeit des Gesetzes zur empirischen Nagelprobe seiner Legitimität erhoben. Das Prinzip des interpretativen Pluralismus sowie die zwangsfreie Weise der Rechtsexekution setzen somit konsequent den demokratischen Gedanken um, dass man Subjekten nur den Bruch solchen Rechts vorwerfen kann, an dessen Gestaltung sie auch selbst beteiligt waren.

Daniel Loick, Juridismus (2017), 332

III. Ausweg responsive Verantwortung?

Grundverantwortung im formalen Sinne ist die in drei Stadien von Ent-sprüchen und Wider-sprüchen sich vollziehende Entscheidung für oder wider einen Anspruch, der ein je bestimmtes Eins-sein fordert, und als Zukunft auf den Menschen zukommt. Im eigentlichen Sinne bestimmt sie sich als ein Sich- – die Existenz – vorholen aus der unter dem Anspruch offenbargewordenen Zwiespältigkeit des Seins in schuldhaftem Gewesensein auf die Zukunft des Eins-werden-könnens zu. […] Im letzten Grunde der Existenz schlägt Wurzel die tiefe Selbstverantwortlichkeit, als die radikale Freiheit des Menschen.

Wilhelm Weischedel, Das Wesen der Verantwortung (1933), 110

III. Ausweg responsive Verantwortung?

Vielleicht gehören wir auf andere Weise auch zu ihnen, und vielleicht beruht unsere Verantwortung ihnen gegenüber nicht auf dem Vorhandensein vorgefertigter Ähnlichkeitsmuster. Vielleicht können wir uns dieser Verantwortung nur durch eine kritische Reflexion auf jene Ausschlussnormen bewusst werden, die Bereiche der Anerkennbarkeit erst konstituieren […].

Judith Butler, Raster des Krieges (2009), 41f.





Ich weiß nicht, ob wir jemals mündig werden.





Michel Foucault, Was ist Aufklärung? (1984), 706